Gespräch mit Martina Zschocke, Reisepsychologin

Martina Zschocke ist Reisepsychologin an der Universität Görlitz, hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht und kennt sich in der Welt des Reisens aus. Mit ihr sprechen wir über Perspektivenwechsel, was das intensive Reisen mit einem machen kann und was «sich selbst finden» wirklich bedeutet.
Globetrotter
18. April 2024
Martina Zschocke, Reisepsychologin

Martina Zschocke, Reisepsychologin

Martina Zschocke:

Es gibt grundlegend zwei Motiv-Arten, welche die Menschen antreiben, eine Reise zu machen: die Push- und die Pullmotive. Pushmotive sind die Motive, die einen von zu Hause wegtreiben. Beispiele hierfür können sein: Ich muss raus, ich brauche Abwechslung. Ich habe die Monotonie des Alltags satt und habe den Wunsch nach Veränderung. Ein weiteres Motiv kann ein Problem sein, das man im Leben hat und das gelöst werden soll. Themen, für die man Abstand und einen Perspektivwechsel benötigt, den Blick von aussen.

Pullmotive, also die Gründe, warum einen etwas anzieht, sind etwas komplexer. Das ist alles, was einen draussen in der Welt anzieht. Ein Interesse an anderen Kulturen, anderen Menschen, anderen Lebensweisen. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach Natur, Bergen, Meer. Oder sogar Kindheitsträumen. Auch Filme, die man gesehen oder Bücher, die man gelesen hat und die bestimmte Sehnsüchte geweckt haben.

Bei den meisten Menschen sind beide Motivkomplexe in etwa gleich ausgeprägt. Je nach Lebensphase kann sich das aber auch unterscheiden oder der Schwerpunkt sich stärker auf den einen oder anderen Motivkomplex verschieben.

Martina Zschocke:

Der Zustand des Unterwegsseins stellt eine Art Moratorium dar. Eine Zwischenwelt. Im Sinne des Ego-Identity Status Modells von Marcia ist es ein soziokulturell und zeitlich begrenzter Spielraum, der einen Übergang auf einem bestimmten Lebensweg ermöglicht.

Mitunter wünschen sich manche auf Reisen eine Veränderung ihrer selbst und planen sie sogar. Je nach Reise funktioniert das tatsächlich auch gut und kann ein valider Weg sein, um solche Ideen anzugehen. Wann, wie und ob das passiert, ist allerdings schwer planbar. Ich habe Geschichten gehört von Leuten, die auf Weltreise gegangen sind, primär die Welt sehen wollten und der Spass im Vordergrund stand. Während der Reise haben sie sich dann aber grundlegend verändert und nach der Rückkehr festgestellt, dass dieser Wandel – obwohl nicht der Hauptgrund für die Reise – das Bleibendste war.

Viele Menschen sagen, dass sie aus bestimmten Gründen auf eine Reise gehen. Andere gehen ohne spezifischen Anlass. Doch bei längeren, intensiven Reisen ist die Wahrscheinlichkeit einer Veränderung deutlich höher. Ob das nun geplant war oder nicht.

Das passiert vor allem, weil es auf Reisen genügend DISTANZ zur eigenen Lebenswelt UND ZEIT für Reflexionen, Entwürfe und Entscheidungen gibt.

Wie zeigt sich das?

Beispiele, die dafür oft genannt werden, können sein, dass man vor der Reise schüchtern gewesen ist. Man lebte sehr angepasst und das Selbstbewusstsein war klein. Durch die Reise kam dann das Gefühl, mit jeder Situation klarzukommen und daraus kann Selbstwirksamkeit entstehen. Auch hier muss es nicht das Ziel der Reise gewesen sein, aber durch die Umstände ist es dann einfach passiert. Wichtige Faktoren sind dabei die Dauer sowie die Intensität der Reise und der Reisetyp – natürlich ist jeder Mensch verschieden.

Oder nach der Reise ist klarer, welcher Lebensweg eingeschlagen wird, welches Studium beispielsweise das Richtige sein könnte.

Martina Zschocke:

Wenn man in der Menschheitsgeschichte zurückschaut, dann gab es da immer wieder die sogenannten «Heldenreisen». Raus in die Welt gehen, sich bewähren, um wirklich sagen zu können, wer bin ich eigentlich? Was will ich eigentlich in meinem Leben?

Identität ist etwas Dynamisches. Während man früher dachte, Identität ist statisch und bleibt für immer gleich, so ist heute erwiesen, dass dem nicht so ist. Identität ist immer statisch und dynamisch. Einige Aspekte bleiben gleich, andere verändern sich. Zu sich selbst finden ist somit ein Prozess, der einen das ganze Leben lang begleitet. Dazu gehören Fragen wie «Wer bin ich jetzt?», «Wer will ich sein?» und «Wie komme ich dahin?».

Es ist hilfreich zu erkennen, was im Leben fehlt. So stellt man vielleicht in einer bestimmten Lebensphase fest, dass man aus dem hölzernen Alltag ausbrechen möchte. Ein solcher «Ausbruch» könnte ein Aufenthalt von einem Jahr in Italien sein – in einer Gesellschaft, die lebendig, sehr lebensfroh und expressiv ist.

Längere Reisen oder Aufenthalte im Ausland erfordern oft geradezu zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Die Fremde dient als Spiegel und bietet Vergleichsmöglichkeiten sowie verschiedene Handlungsoptionen. Und die Distanz zum sozialen Umfeld ermöglicht auch Distanz zur eigenen Rolle und lässt die Frage zu, inwieweit diese einem noch entspricht. Und es gibt keine Habitualisierung, was die Wahrnehmung steigert. Das kann zu einer Stärkung bestimmter Teile der Identität führen und zum Schwächen anderer und führt damit fast immer zu einer Art der Selbstaktualisierung.

Martina Zschocke:

Es hängt immer von den spezifischen Ängsten ab. Der Weg zu einer Reise ist ein eigener Prozess, wobei schon viel passieren kann. Was fehlt mir, was hemmt mich? Wie gross ist das Bedürfnis nach einer Reise wirklich? Und wenn ich zu viel Angst davor habe, ist es dann die richtige Lösung oder ist ein anderer Weg besser?

Es ist oft nicht ratsam, Personen, die sich zu grosse Sorgen machen, zu sehr zu drängen. Die Fremde ist für Viele eine Grenzerfahrung und erfordert je nach Typ Mensch einen eigenen Weg zum Ziel. Es gibt auch Menschen, die gar nicht reisen wollen, es aber machen, weil es die Gesellschaft erwartet.

Mitunter gibt es bei langen Reisen und / oder dem Aufenthalt in völlig anderen Kulturen eine Übergangsphase der Erschütterung des Selbstbildes, die muss man aushalten können. Ebenso sollte man mit einem eventuell auftretenden Kulturschock umgehen können.

Das Reiseangebot ist heute sehr umfangreich, und für jeden Bedarf gibt es passende Unterstützung. Wer wirklich reisen möchte, wird dies früher oder später auch tun, wobei der individuelle Weg dorthin bereits viel in einem bewirken kann. Für eine wirkliche Veränderung sind aber die selbst initiierten und organisierten Reisen deutlich effektiver.

Martina Zschocke:

Die Vorfreude spielt eine grosse Rolle beim Reisen. Es ist nachgewiesen, dass Vorfreude auf Erlebnisse wesentlich grösser ist als Vorfreude auf Materielles. Mit der Vorfreude beschäftigt man sich mit der zukünftigen Reise und was man erleben will. Vorfreude ist aber auch tricky. Aus Studien geht auch hervor, dass man mit zu hohen Erwartungen vorsichtig sein muss, weil das Risiko für Enttäuschungen grösser wird. Offenheit ist entscheidend, um die reale Reise dann auch wirklich geniessen zu können.

Martina Zschocke:

Ich bin eher skeptisch bei Projekten, wo so etwas geplant wird. Dann ist schon vordefiniert, was das Ergebnis sein soll. Dadurch verlässt man selten seine alten Gewohnheiten, da man im gewohnten Denkmuster plant. Man kann zwar günstige Bedingungen schaffen, aber es gibt keine Garantie, besonders was die Langfristigkeit betrifft.

Ob eine Weltreise, «Work and Travel» oder eine Backpacking Reise von drei Monaten irgendwo auf der Welt – alles kann zu einer persönlichen Pilgerreise werden, wenn man es zulässt, der Moment stimmt sowie die Menschen, die man trifft. Phil Coisenaeu bezeichnet alle Reisen, die eine tiefe Bedeutung für einen haben als Pilgerreisen.

Reisen bedeutet, den Alltag hinter sich zu lassen. Ich denke, zwei bis drei Wochen reichen bei den Wenigsten aus, um tiefgreifende Veränderungen zu erleben. Um Lebensentwürfe und Entscheidungen zu hinterfragen und sich damit auseinander zu setzen, braucht es Zeit und Abstand. Trotzdem passieren oft genau dann Veränderungen, wenn man es am wenigsten erwartet.

Martina Zschocke:

Das ist so. Die Fremde dient dem Reisenden oft als Spiegel. Jede Begegnung, jeder Ort bietet einem die Chance, ungehemmt zu reflektieren und zu spüren, wie man wahrgenommen wird. Fern vom gewohnten Umfeld und seiner normalen Rollen ist man oft offener, was neue Perspektiven und Handlungsoptionen eröffnet.

Das hilft bei der Selbstreflektion und kann zu befreiten Gefühlen und Selbstbewusstsein führen – zu Veränderungen, die im angestammten Umfeld nicht möglich sind. Diese Erfahrung kann je nach Thema und Selbstwahrnehmung schön sein, aber auch erschütternd.

Es gibt Menschen, die beschreiben den Prozess wie die Häutung einer Schlange. Eigentlich hat man schon immer gespürt, was unter der Haut steckt – die man zuerst ablegen musste.

Für manche bedeutet eine Reise einen kompletten Richtungswechsel, für andere das Intensivieren bestimmter Lebensaspekte. Nach der Heimkehr kann dies den Beginn einer neuen Lebensphase erleichtern.

Längere Reisen finden aber ohnehin oft am Übergang von einer Lebensphase zu einer anderen statt. Also biographische Statuswechsel, am Ende eines Lebensabschnittes wie Schule, Studium, Lehre (wie bei der Walz), Beziehungsende oder -Anfang oder Tod eines Angehörigen (bei Letztem sind es oft Wanderungen).

Martina Zschocke:

Ich habe mit Globetrotterinnen und Globetrottern gesprochen, die kamen nach Hause, wo ihnen die Decke auf den Kopf fiel und sie wieder aufgebrochen sind – viele davon sind heute noch unterwegs und haben ihr Leben komplett verändert. Andere wiederum sind wieder daheim angekommen und sesshaft geworden. Auch hier ist es sehr individuell.

Das hängt auch vom Persönlichkeitstyp ab. Einerseits gibt es «sensation seeker», die stets viel Anregung und Neues benötigen, um sich nicht zu langweilen. Die machen ganz andere Reisen. Das haben sie unterwegs erlebt und nun fällt es ihnen schwerer, sich wieder einzuleben. Je nach Reise hat man eine hohe Ausschüttung von Endorphin und Adrenalin. Wenn das dann wegfällt, kann das erst mal ein Loch hinterlassen. Je nach Typ kann das auch in Suchtverhalten umschlagen.

Im Idealfall entwickelt man einen Weg, die Reiseerfahrungen ins Alltagsleben zu integrieren. Daraus entwickelt sich oft eine vielseitige Identität, geprägt von zuhause und den Einflüssen der Reisen und Auslandsaufenthalte, eine Art Patchwork Identität.

Martina Zschocke:

Es ist wissenschaftlich erwiesen, das Reisen bei leichten und mittelschweren Depressionen helfen kann. Zudem beschreiben mehrere Schriftsteller aus allen Epochen ihre Reisen als heilend. Depressionen, psychische Sehstörungen, die über Jahre behandelt worden sind, wurden durchs Reisen gelindert.

Die Stimulierung der Wahrnehmung beim Reisen und die Notwendigkeit, sich nach aussen zu orientieren, verlagert den Fokus von innen nach aussen und kann dadurch helfen aus den eigenen, kreisenden Gedankenmustern auszubrechen. Dazu kommt der Abstand von den multiplen Anforderungen des Alltags, weniger Ablenkung und ein Gefühl grösserer Wachheit und Lebendigkeit, dadurch das weitaus mehr sinnlich wahrgenommen wird als im Alltag.

Sollten dann noch neue, interessante soziale Kontakte, mehr Bewegung und mehr Sonnenlicht dazu kommen, tragen diese ihrerseits zur Linderung von depressiven Symptomen bei.

Auf der anderen Seite kann Reisen auch Risiken mit sich bringen. Auf Reisen kann man leicht übermüdet sein oder Reizüberflutung empfinden. Für manche, wie Epileptiker*innen, kann schon das flackernde Licht im Zug zu viel sein, wenn sie übermüdet sind. Hier ist die Abklärung mit einem Arzt vor einer Reise wichtig. Und während der Reise sollte auf ausreichend Schlaf und Ruhepausen geachtet werden. Dasselbe gilt für latente Psychosen, da durch Reisen ein Schub ausgelöst werden kann.

Martina Zschocke:

Das Eintauchen in andere Kulturen fördert die Kreativität und das Entwickeln neuer Ideen, da es nachweislich die kognitive Flexibilität erhöht. Verschiedene Optionen tun sich oft erst auf Reisen auf und in neuer Umgebung finden viele leichter neue Wege und neue Ideen.

Das alles wird durch die Freiheit von den gewohnten Mustern gefördert, die man unterwegs spürt und sich durch die bei einigen erhöhte Selbstwirksamkeit auch leichter umzusetzen traut.

Herzlichen Dank für das Interview!

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